Im vorigen Artikel habe ich ja erzählt, dass mein allererstes Interview mit dem neuen Mikrofonsystem ein Fehlschlag war, weil ich wegen der miesen Bedienungsanleitung irgendwo den Knopf nicht richtig gedrückt hatte. Nachdem ich mich nochmal sehr viel gründlicher mit dem System beschäftigt habe, konnte ich herausfinden, wo der Fehler lag. In der Zwischenzeit habe ich mit einem Biografie-Kunden zwei andere Interviews geführt, das lief technisch einwandfrei. Also war es Zeit, das fehlende Interview noch einmal nachzuholen. Das habe ich nun am Wochenende gemacht.
Wie schon beim ersten Mal fand ich es faszinierend zu hören, wie die ältere Dame als junges Kind die Flucht aus Niederschlesien erlebt hat. Ihre Großeltern hatten dort einen Hof. Zwischen Weihnachten und Neujahr im Winter 1944 kam der Befehl von den Behörden, dass die Leute in der Ortschaft innerhalb weniger Stunden ihre nötigsten Sachen packen und verschwinden sollten. Ihre Großeltern hatten nur noch ein Pferd (die anderen Pferde waren von der Armee konfisziert worden), außerdem noch vier Kühe, Schweine, unzählbar viele Hühner sowie weitere Tiere auf dem Hof.
Für die Großeltern war das schlimm, denn sie waren nach dem ersten Weltkrieg schon einmal vertrieben worden, eigentlich waren sie aus Posen, mussten dort schon einmal den Hof zurücklassen und mit den nötigsten Sachen fliehen. Die Großmutter packte aus dieser Erfahrung nur das nötigste ein, nämlich möglichst viel von den Essensvorräten dazu noch warmen Sachen. Die im Herbst frisch gefüllte Speisekammer, alle guten Kleider, wichtige Erinnerungsstücke – das musste alles zurückbleiben. Auch die Tiere: die Großmutter öffnete die Türen von den Ställen, damit die Tiere nach draußen konnten, um sich dort Futter zu suchen.
Dann ging es los: die ältere Frau war damals knapp sieben Jahre alt, daher durfte sie mit der knapp zweijährigen Stiefschwester und den Großeltern auf dem Wagen unter einer Plane sitzen, ihre Mutter mit dem Stiefvater und der schon zehnjährige Bruder mussten laufen. Bis zur Oder waren es rund 250 Kilometer. Es waren zahlreiche Trecks, die sich Richtung Westen aufmachten.
Es war mitten im Winter, die Temperaturen sind teilweise unter -40 Grad gefallen! Trotzdem kamen sie einigermaßen durch.
Die ältere Dame hatte keine Fotos von der Flucht, dieses Bild hier zeigt eine andere Familie, aber so ungefähr hat die Flucht bei vielen ausgesehen …
In der Nähe der tschechischen Grenze wurden die Trecks oft von Plünderern überfallen, aber sie hatten Glück. Abends wurde in einem Dorf haltgemacht und nach einem Stall für das Pferd geschaut. Die Bewohner der Dörfer waren sehr hilfsbereit, gaben Futter und Heu, sie wussten wohl, dass sie selbst bald fliehen würden, da hatte es keinen Zweck, das alles noch zu horten.
Tote Pferde, tote Hunde, auch manche Menschen blieben tot zurück …
Als die Familie endlich bei Görlitz an der Oder ankam, sollte die Brücke gesprengt werden. Aber der Stiefvater schaffte es, die Sprengung vorerst zu verhindern – wie genau, wusste die ältere Dame nicht mehr.
Auf der anderen Seite des Flusses angekommen, schenkten sie das Pferd und den Wagen einem Bauern. Nun ging es mit dem Zug weiter zu einer Verwandten nach Dresden.
Dort sind sie Ende Januar angekommen, genau zwei Wochen vor der verheerenden Bombardierung. Die Familie hatte Glück, dass die Verwandte am Stadtrand lebte, wo die Bombardierung nicht ganz so verheerend war. Ein Haus war wohl eingestürzt, ihr Stiefvater half mit, Leute zu evakuieren. Sie erinnert sich noch an den Anblick der brennenden Stadt und wie sie ihre Oma fragte, ob auch ihr Haus brennen würde. Die Großmutter sagte, nein, das Haus brennt nicht. Daraufhin war sie beruhigt.
Bald danach zog die Familie nach Berlin, das später geteilt wurde. Die Großeltern wollten nicht noch einmal umziehen, sie blieben auf DDR-Gebiet, aber der Rest der Familie wollte lieber in den Westen. Sie hat ihre Großeltern noch regelmäßig besucht, bis sie gestorben sind. Danach ist sie nie wieder dorthin zurückgekehrt.